Belgien mit Bosnien und der Herzegowina (BiH) zu vergleichen erscheint zunächst dreist und kühn, für manche möglicherweise sogar beleidigend. Jedoch nur auf den ersten Blick. Bei wichtigen Unterschieden hinsichtlich der demokratischen Tradition und Praxis gibt es tatsächlich strukturelle Ähnlichkeiten. Ein Vergleich erscheint für Belgien interessant und für BiH sicherlich nützlich.
________piše: Petar Bilobrig | Poskok.infoDer größte Unterschied besteht in der Tatsache, dass die Menschen in BiH in der jahrhundertealten Geschichte nie, aber wirklich NIE die Gelegenheit hatten, demokratisch über sich selbst zu bestimmen bzw. in Demokratie zu leben.
Die Geschichte beider Länder wurde durch massive Einmischung von außen jeweils unterschiedlich, aber maßgeblich bestimmt. So ist der Staat BiH in seiner letzten Ausformung ein unglückliches Produkt des internationalen Friedensabkommens von Dayton (1995).
Wie Belgien besteht BiH ebenfalls verfassungsmäßig aus Regionen und Gemeinschaften. In den beiden Regionen in BiH (Entitäten), sind ebenfalls drei Gemeinschaften "untergebracht".
Die serbische (christlich-orthodoxe) Gemeinschaft (ca. 1.670.000) hat ihre eigene Region "Republika Srpska" und ist, wie die Flämische Gemeinschaft in Flandern, in hohem Maße "homogen".
In der zweiten Region "Föderation von Bosnien und der Herzegowina" dagegen leben eine zahlenmäßig kleinere kroatische (christlich-katholische) Gemeinschaft (ca. 650.000) neben einer viel größeren muslimisch-bosniakischen Gemeinschaft (ca. 2.000.000). Wie die Deutsche Gemeinschaft in Wallonien hat die Kroatische Gemeinschaft in der "Föderation" ebenfalls (noch) keine eigene Region (Entität).
Was in Belgien als "anhaltender Sprachenstreit" heißt, wird in BiH geradeheraus und weniger euphemistisch als "ethnische Spannungen" bezeichnet. Republika Srpska, ähnlich wie Flandern, fordert immer mehr Autonomie, während die Bosniaken in der muslimisch-kroatischen Region, ähnlich den Wallonen, nach mehr Zentralismus streben. Die Kroaten, ähnlich wie die Deutschen in Belgien, wollen ihre autonome Region.
Belgien ist nunmehr im neunten Monat ohne Regierung, BiH im fünften. Damit wäre man mit den strukturellen Ähnlichkeiten ziemlich am Ende.
Der Umgang mit anhaltend herrschenden Spannungen ist jedoch grundlegend unterschiedlich. In Belgien wurde das Rezept für den Erhalt eines gemeinsamen Staates recht früh erkannt und angewandt. Die Verfassungsreformen trugen immer wieder zu einer weiteren Dezentralisierung der gesamtstaatlichen Organisation bei und dadurch verlängerten bis dato ihren Erhalt. Dieses Phänomen ist begründet in einer konsequenten Anerkennung und Ausübung der demokratischen Regeln, was den belgischen Kompromiss ermöglichte. Als bestes Beispiel dafür ist für uns die Bereitschaft der Wallonen, sich der Bildung einer Deutschen Region nicht zu widersetzen. Pures Gegenteil bei uns in BiH: Die Bosniaken haben unmissverständlich gesagt, sie werden einer kroatischen Region NIE zustimmen! Voilà!
Man stelle sich einmal vor, die Wallonen würden die deutsche Forderung nach eigener Region von vorneherein als "schlimmsten Separatismus" verurteilen und dazu mit dem Argument, dies würde die Einheit des Landes gefährden!
Ganz anders in BiH! Nachdem die Region "Republika Srpska" aufgrund von Daytoner Friedensabkommen (1995) in der Zeit danach praktisch als (Bundes)Staat der Serben in BiH "zementiert" worden ist, bleibt noch der "Sprachenstreit" lediglich zwischen Bosniaken und Kroaten in der Region "Föderation von BiH" ungelöst.
Gerade dort wollen die zahlenmäßig viel stärkeren Bosniaken, nachdem ihnen der Versuch der Zentralisierung des Gesamtstaates einschließlich der Republika Srpska – trotz massiver Beihilfe der Internationalen Gemeinschaft – definitiv misslungen ist, nunmehr diese Region zentralisieren und die zahlenmäßig kleinere Kroatische Gemeinschaft unter ihre Vorherrschaft stellen.
Zur Erläuterung mögen zwei Beispiele dienen.
Die bloße Forderung der Kroaten nach einem TV- und Radiokanal in ihrer Sprache erklärten die Bosniaken ihren "nationalen Interessen" zuwider und schmetterten sie mit diesem parlamentarischen Instrument nieder.
Man stelle sich vor, die stärkste wallonische Partei, noch dazu sozialdemokratisch, würde in "ihrer Region", d.h. wo sie wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke herrschen wollten, der Deutschen Gemeinschaft den öffentlich-rechtlichen Radio- und TV-Kanal verweigern und ihnen sogar den Ministerpräsidenten bestimmen und aufdrücken.
Nicht weniger schlimm und moralisch verwerflich: Die bosniakischen "Sozialdemokraten" - die Erbin der jugoslawischen Kommunisten und eine in der Praxis nationalistische bosniakische Partei unter Führung des Zlatko Lagumdzija - kandidieren einen Kroaten als kroatisches Mitglied für das dreiköpfige Präsidium des Landes. Natürlich unter unverschämter Ausnutzung des Umstands, dass die Bosniaken genügend Stimmen haben, um Kroaten überstimmen zu können und dadurch zwei bosniakische Vertreter ins Präsidium zu wählen. Dieses ist zwar "legal", d.h. dem geltenden Wahlgesetz nicht zuwider. Jedoch muss gesagt werden, dass dieses Gesetz durch eine oktroyierte Änderung der betreffenden gesetzlichen Bestimmungen seitens des OHR (Wolfgang Petrich) möglich ist.
So wird Željko Komšić bereits zum zweiten Mal nachweislich mit Stimmen der Bosniaken als "kroatisches" Präsidiumsmitglied in das Präsidium gewählt. Als "Angehöriger" der kroatischen Gemeinschaft, jedoch nicht als ihr gewählter "Vertreter" ist er keineswegs ein legitimes Präsidiumsmitglied. Somit haben die Bosniaken im Präsidium des Landes zwei von ihnen gewählte Vertreter. Eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, die durch List und Trick gerade der bosniakischen "Sozialdemokraten" bereits zweimal möglich wurde.
(Hier muss eingefügt werden, dass die bosniakischen Sozialdemokraten bis auf ihre bloß deklarativen sozialdemokratischen Vorgaben in Praxis eine rein bosniakisch-nationalistische Partei sind. In der serbischen Region gibt es auch eine andere selbstständige sozialdemokratische Partei.)
Damit enden die Machenschaften der bosniakischen "Sozialdemokraten" keineswegs. Aus den letzten Wahlen sind zwei kroatische Parteien als Wahlsieger unter den Kroaten hervorgegangen, indem sie über 90 % der kroatischen Stimmen auf sich vereinigt und eine programmatische Koalition gebildet haben. Um den demokratischen Schein zu wahren, haben sich sie bosniakischen "Sozialdemokraten" jedoch zwei unbedeutende kroatische Parteien (mit etwa 3 % der kroatischen Stimmen) als Partner ausgesucht und wollen mit ihnen die Regierung bilden. So würde man wiederum dem oktroyierten Gesetz genügen, keineswegs dem Geist und den Erfordernissen eines dauerhaften Zusammenlebens in einer höchst geteilten Gesellschaft. Von einem Beitrag zur Integration des Landes nicht zu sprechen.
Man stelle sie wiederum vor, die wallonischen Sozialdemokraten würden, um regieren zu können, mit zwei kleinen flandrischen Parteien eine Koalition eingehen und dadurch die flandrischen Wahlsieger von der Teilnahme an der Regierung fernhalten!
Das Spiel der Internationalen Gemeinschaft
Interessant ist dabei das Verhalten und das aktive Wirken der Internationalen Gemeinschaft in BiH. In Vergangenheit hat sie sich massiv und meistens falsch eingemischt.
Nach dem Krieg in den 90er Jahren und nach Friedensabkommen von 1995. benahm sie sich dort wie ein Elefant in Porzellanladen. Man begann gleich mit einer Demontage des Abkommens, welches zugleich bis heute als die Verfassung des Landes fungiert. Die "Hohen Vertreter" der Internationalen Gemeinschaft regierten dort mit absoluter Macht. Bewaffnet mit Unmengen von Geld und mit "Bonner Vollmachten" änderten und zwangen sie Gesetze auf, wechselten ihnen unbeliebte (vom Volk gewählte) Politiker und Parlamentarier aus, verweigerten vielen Menschen die Ausübung ihres Berufes, sogar ihre Menschenrechte. Und dabei waren sie keinem Menschen und keiner Instanz gegenüber verantwortlich! Darin taten sich Wolfgang Petritsch und Paddy Ashdown ("der Maharaja von Bosnien") besonders hervor.
Sie alle, einschließlich des aktuellen Valentin Inzko, hatten eine mission impossible zu erfüllen: die Zentralisierung des Landes unter Ausradierung aller für den Erhalt einer komplexen Gesellschaft wichtiger Strukturen. Ein Jugoslawien im kleinen - unter dem Vorwand der Demokratie! Und sie alle versagten jämmerlich, und mit ihnen die Internationale Gemeinschaft. Das kann man nunmehr im Rückblick mit Sicherheit diagnostizieren.
Dabei seien hier einfache, weil vernünftige Fragen zulässig: Sind wir hier in BiH etwa bessere Versuchskaninchen als ähnliche Gesellschaften anderswo? Glaubt man etwa, hier über Nacht durchsetzen zu können, was einer langen gesellschaftlichen Evolution bedarf (Schweiz, Belgien, Großbritannien...). Dazu etwas, was in einem höchst demokratischen Belgien nachgewiesenermaßen schwer geht?
Presseschau – für belgische Ohren faschingsreif
In Belgien dagegen gibt es eine solche Einmischung nicht im entferntesten. Um die Einmischung in BiH anschaulich zu machen, erlauben wir uns einmal folgende Presseschau vor. Ein paar aktuelle Stellungnahmen, Ratschläge und Drohungen von einigen internationalen Akteuren zu BiH werden im folgenden Text so verändert, als ob sie sich auf Belgien beziehen würden. Sie mögen höchst befremdlich klingen, stammen aber aus unseren hiesigen Medien. In den Texten wurde lediglich "BiH" gegen "Belgien" sinngemäß ausgetauscht. Entsprechende Änderungen sind kursiv gedruckt. Wenn man zynisch und bösartig wäre, könnte man fragen, warum werden solche erfolgreichen Rezepte Belgien vorenthalten?!
Die Höhe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, wird von der EU verlangen, einen Botschafter nach Belgien zu schicken und ihn mit Instrumenten zur "Aufweichung" von hartnäckigen belgischen Politikern versehen. Diese Instrumente würden wirtschaftliche Sanktionen gegen einzelne Landesteile (Flandern, Wallonien) enthalten, auch Reiseverbote in die EU, aber auch andere Sanktionen außer Absetzung von Politikern, was weiterhin in der Zuständigkeit des Hohen Vertreters für Belgien bleiben würde.
Nach diesem Plan, für den sich Catherine Ashton die Unterstützung der USA und der britischen Regierung zugesichert hat, soll der neue Botschafter der EU in Belgien alle Anliegen bezüglich der europäischen Integration von dem Hohen Vertreter (Valentin Inzko) übernehmen, während dieser mit seinen Vollmachten in Belgien bleibt, bis die heimischen Politiker eine neue Regierung gebildet und Verfassungsänderungen vorgenommen haben, die für den Verbleib des Landes in der EU nötig sind.
Doris Pack, die EU-Politikerin und Mitglied des Europäischen Parlaments, hat in einer an die belgischen Bürger gerichteten Videobotschaft verkündet, sie würde wegen der Unbeweglichkeit der belgischen Politiker langsam ihre Geduld verlieren. Wenn Ergebnisse nur unter Druck zu erzielen sind, dann sollte die EU zu anderen Mitteln greifen. Ich würde mich schämen, sagte sie, wenn mich jemand zwingen würde, die Arbeit zu tun, für die ich gewählt worden bin. Jeder belgische Politiker muß seine Hausaufgabe im Interesse von belgischen Bürgern so schnell wie möglich erledigen.
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Das EU-Parlament sollte wegen des unstabilen politischen Klimas und wegen des Mangels an der gemeinsamen Vision der beiden Regionen in Belgien seine tiefe Besorgnis ausdrücken. Eine Rhetorik, die den Prozess der Aussöhnung von beiden belgischen Gemeinschaften untergräbt, ist zu verurteilen. In ihrem Appell an beide Regionen hat sie insbesondere Flandern (= Republika Srpska) aufgerufen, an Gesprächen aktiv und konstruktiv mitzuwirken. Catherine Ashton und der Kommissar Füle sollten gegen belgische Politiker die Macht der EU vollständig anwenden.
Belgien hat das Amt des Hohen Repräsentanten (OHR) nötig, weil die Politiker aus Flandern nicht in der Lage sind, Belgien als ihren Staat zu akzeptieren. Die Denkweise der flandrischen Politiker ist nicht gut. Ich hoffe, sie werden ihre Meinung ändern und begreifen, dass dies für ganz Belgien besser ist. In Belgien ist anstelle einer neuen Reformregierung ein unreifes Verhalten und eine Rhetorik der Politiker vorhanden, wovon auch die bisherigen belgischen politischen Krisen gekennzeichnet waren. Es wurde erwartet, dass nach den letzten Wahlen die Sachen besser werden und die Politiker die Zukunft von Belgien im Sinn haben werden – mehr pragmatisch und weniger nationalistisch. Die Einwohner Belgiens verdienen ein wahrhaftes Engagement und nicht dieses unreife Verhalten. Es geht nicht, dass so ein relativ kleines Land so viele Ministerien hat... Die ethnischen Probleme (= der Sprachenstreit) sind daran schuld, dass neun Monate nach den Wahlen keine Regierung da ist, sagte Doris Pack im Radio Freies Europa.
Doris Pack hat während ihres dreitägigen Besuchs im Lande die Jugend aufgefordert, auf die Straße zu gehen und die Politiker zu einer Verbesserung des Zustands zu zwingen. Dieser Aufruf wurde jedoch von den führenden belgischen politischen Parteien sowie dem Studentischen Parlament in Brüssel verurteilt und als undiplomatisch und gefährlich bezeichnet.
Der Hohe Repräsentant und zugleich der Spezielle Vertreter der EU für Belgien, Valentin Inzko, hat heute mit Doris Pack über die Blockade der Regierungsbildung in Belgien gesprochen. Neun Monate nach der Wahl sind wir Zeugen vom Stillstand und einer unverantwortlichen Politik, sagte Inzko. Pack fügte hinzu, sie sei "frustriert und enttäuscht". Dies sei ganz und gar unannehmbar, denn Belgien sucht verzweifelt nach funktionierenden Institutionen. Wenn die Obstruktion anhält, werde sich die EU die Anwendung von angemessenen Instrumenten überlegen gegen diejenigen, die für die politische Stagnation in Belgien verantwortlich sind, wurde von OHR mitgeteilt.
Die belgischen Deutschen (= Kroaten in BiH) sind zwar konstitutiv in Belgien und haben die gleichen Rechte wie auch andere Völker in Belgien, jedoch entsteht bei manchen verständlicherweise das Gefühl, dass sie nicht gleichberechtigt sind, da sie nicht ihre eigene Region haben, kommentierte Inzko die behauptete Benachteiligung der belgischen Deutschen anlässlich der Unterzeichnungsaktion der Petition "Stop die Majorisierung der Deutschen in Belgien!". Natürlich gebe es unterschiedliche Gegenden. Wenn Sie dort in die ethnisch sauberen deutschen Städte gehen, ich denke, haben die Deutschen alle Rechte, sogar mehr als andere Völker, jedoch gibt es auch Gegenden, wo dies nicht der Fall ist, erklärte Inzko.
Inzko hat die Idee von einer dritten (deutschen) Region kategorisch verworfen und als "Zeitverlust" bezeichnet. Eine dritte (deutsche) Region würde keine neuen Arbeitsplätze schaffen, und gerade das sei eines der Probleme für manche Deutsche. Er habe nie gesagt, er werde die belgischen Politiker wegen schleppender Regierungsbildung sanktionieren. Zurzeit überlegt er sich dies nicht, jedoch seien alle Optionen offen. "Vielleicht habe ich davon geträumt, gesagt habe ich es aber nie".
Jelko Kacin, Abgeordneter im EU-Parlament, findet, dass die politische Elite in Belgien verkrampft und nicht in der Lage ist, operative Lösungen anzubieten und staatliche Institutionen zu aktivieren, weshalb der Staat blockiert ist. Die Regierungsbildung in Belgien dauert viel zu lange, deshalb "ist jede Koalition besser als keine".
Das Problem in Belgien haben jene geschaffen, "die in Schaffung von Problemen und Obstruktionen perfektioniert sind". Es gibt jedoch eine Alternative: Die Bürgerinitiativen können bessere Ergebnisse erzielen als Politiker!
Der Vizeaußenminister der Vereinigten Staaten kommt nach Brüssel, wo er mit dortigen Politikern Gespräche über das Problem mit der Regierungsbildung führen wird. Das offizielle Amerika meint, dass die Bildung einer dritten (deutschen) Entität in Belgien keine Lösung wäre, denn Belgien braucht nicht eine noch komplexere Struktur und damit zusätzliche Hindernisse zur politischen Aktion. Im Gegenteil, Belgien braucht eine effektive Struktur, die Entscheidungen treffen kann, sagte er im Radio "Freies Europa".